Ein Artikel über meine Erfahrungen und Sichtweise - August 2024
Eine alte, wohl marokkanische Dame wird von zwei Flugbegleitern langsam und fürsorglich die Stufen eines Flugzeugs nach Essaouira heruntergeleitet.
Alles hat seine Zeit. Stufe für Stufe. Shuia shuia.
Frauen geniessen in Marokko in der Öffentlichkeit Respekt. Gerade ältere.
Man kümmert sich. Sobald es Situationen gibt, in denen frau Hilfe bräuchte, ist sofort jemand da. Eine Frau am Supermarkt in Marokko möchte ein schweres Wasser-Sixpack ins Auto hieven. Bevor sie sich versieht, greift mein marokkanischer Freund danach, hebt es in den Kofferraum, lächelt und hinterlässt eine verdutzt dreinschauende Europäerin.
Helfen ist hier normal. Gut, viele möchten dabei auch Geld verdienen - oder müssen. Trotzdem ist dieser Blick für Hilfsbedürftigkeit vorhanden. Wieviel davon traditionell aus der Religion herrührt (du sollst Bedürftigen helfen), kann ich nicht beurteilen. Vieles kommt aber auch aus dem anderen Rollenbild in dieser Kultur. Frauen sind hilfsbedürftig...
Szenenwechsel. Ich mühe mich bei drei Umstiegen auf deutschen Bahnhöfen mit drei schweren Koffern ab. Ich erwarte nichts. Ich bin Deutsche. Selbstständig, unabhängig. Stark. Ich komme immer alleine klar. Beim dritten Mal auf dem Bahnhof Düsseldorf sitzt eine afrikanische Familie mir gegenüber. Als ich aussteigen will, weist der Vater seinen ca. 14jährigen Sohn an, mir zu helfen. Er selbst greift meinen zweiten Koffer zusammen mit seinem eigenen. Wohlbehütet schaffe ich den Ausstieg bevor sich die nächsten Gäste wieder hineinzwängen können.
Wir verabschieden uns herzlich. Ich bin dankbar. Und ich werde nachdenklich.
Der Preis für unsere Emanzipation ist vielleicht, dass wir weder Hilfe erwarten, noch jemand aus unserem Kulturkreis überhaupt auf die Idee kommt, ungefragt zu helfen, solange nicht wirklich Hilfe im Notfall erforderlich ist. Es könnte eine Grenzverletzung sein, oder? Einmischung. Bevormundung.
Tatsächlich ist dieser kulturelle Unterschied in der Rollendefinition der Hauptgrund, warum mein Freund und ich uns nicht verstehen. Es ist eine Frage der Ehre, dass er mir bei allem hilft, mir alles abnimmt, was geht - ausser im Haushalt. Ich brauche nur mit dem Finger zu schnipsen und er springt. Ich hingegen mache ihm Vorwürfe, dass er mich entmündigt, mich einsperrt, mir nichts zutraut. Und dass ich zu einer Hausfrau degradiert werde. Mit der Zeit haben wir uns angenähert. Er lässt mich alleine einkaufen gehen. Finanzielle Entscheidungen treffen. Sogar in einem Bistro arbeiten, obwohl ich dort Kontakt zu dubiosen Gestalten haben könnte, die vielleicht gefährlich sind, Drogen verticken oder zumindest unseren/meinen Ruf schädigen. Aber recht ist es ihm nicht. Es ist ein Zugeständnis an meine Herkunft und Kultur und meine Selbstständigkeit.
Und er weiss, dass ich gut im 'geschäften' bin und mit den Touristen kann. Eine Frage des Abwägens.
Ich bin mit 57 die erste Generation an Frauen, die nach unseren Müttern komplett selbstbestimmt sein durften, wenn wir geheiratet haben. Wir durften uns den Ehepartner aussuchen. Uns scheiden lassen (später sogar ohne die Schuldfrage). Dann auch Kinder ohne Mann haben. Wir hatten von jung auf die Pille. Wir durften sogar abtreiben. Karriere auch als Ehefrau machen. Selbst entscheiden, ob wir arbeiten wollen (in den 60ern brauchte Frau noch die Einwilligung des Ehemanns). aber die totale Freizügigkeit und Selbstständigkeit der Frau, die heute möglich ist, kam schrittweise. Und auch die Reduzierung der Männerrolle auf mehr und mehr gleichberechtigte, geteilte Aufgaben in der Familie.
Marokko steht da noch am Anfang. Die ersten jungen Leute leben zumindest in den Grossstädten bereits selbstbestimmter. Auf dem Land ist es noch so wie zu unseren Uromas und -opas Zeiten. Und hier herrscht überall das Patriarchat. Immer noch mit Entmündigung bzw. mit der Übernahme der kompletten Verantwortung für die weiblichen Familienmitglieder. Auch die Söhne werden entsprechend an ihre grosse Verantwortung für das Wohl und die Ehre der Familie herangeführt. Sie dürfen dann schon über ihre Schwestern bestimmen. In unseren Augen sind die meisten der marokkanischen Männer Machos mit Dominanzverhalten und womöglich einer guten Portion Gewaltbereitschaft.
Es gibt Frauen wie Kabira (heute 50), die als Kind (mit 10 Jahren) verkauft wurde - vom Vater. Sie hatte Glück. Sie wurde nur fürs Arbeiten verkauft. Aber hilflos ausgeliefert war sie trotzdem. Und auch ihre Mutter, deren Herz daran zerbrach. Diese hatte vorher bereits viel erlitten. Prügel standen an der Tagesordnung. Aber als 'Mann' ihr ihr Kind nahm, wurde sie gebrochen und verliess zwei Jahre nicht mehr das Bett.
Kabira ist nicht zur Schule gegangen. Damals hatte sich das Land noch nicht darum gekümmert (heute schon. Die jungen Leute sind überwiegend gebildet und es gibt eine Art Jugendamt, die in den Familien nach dem Rechten sieht) Sie wurde mit 18 mit einem über 50jährigen ungefragt verheiratet. Sie gebar 4 Kinder. 8 Jahre später stand sie mittellos da, als ihr Mann verstarb. Sie kämpfte sich durch. Ging putzen. Lernte Englisch. Kochte für Touristen. Machte Stadtrundgänge. Hammam-Besuche mit Interessierten. Massagen. Sie schaffte es, die 4 Kinder nicht nur durchzubringen, sondern auch aus ihnen wohlerzogene, gebildete junge Erwachsene zu machen. Und sie wollte nie wieder heiraten und abhängig sein. Ihr war es mit ihrem Mann auch nicht wirklich gut ergangen. Aber mit ihrem Charme und ihrer Rafinesse hatte sie ihn irgendwann soweit bekommen, dass er sich zumindest mehr um seine Familie kümmerte, auch um seine Gesundheit. Dass er wieder gottesfürchtig würde und den Alkohol und die Zigaretten weglässt. Aber es war zu spät gewesen. Er starb noch vor seinem 60ten Lebensjahr.
Ich habe absolute Hochachtung vor dieser stolzen und so starken Berber-Frau. Und ich kann tatsächlich heute nicht mehr relativieren, dass so eine Geschichte ein Einzelfall ist. Es gibt unzählige traumatisierte Kinder, die heute erwachsen sind und die Geschichte ihrer Eltern lösen müssen. Sie leben zwischen zwei Welten. Der traditionell patriarchischen, und der modernen, weltoffenen, freizügigen, die ihnen mittels Mobilphone und dem worldwide web eröffnet wird. Aber dazwischen fehlt ihnen eine Generation, die hineinwachsen konnte. Also auf in den Schleudersitz. Ein paar unserer Errungenschaften werden halt dann übersprungen. Das führt nur leider dazu, dass sie ein widersprüchliches Verhalten an den Tag legen. Auch was das Konsumverhalten anbelangt. Technik ist heute billig. Sie sind ohne Umwege direkt zur China-geprägten Wegwerfgesellschaft geworden, wobei findige smarte Menschen aus diesem Müll wieder etwas Verwertbares machen, und fast jedes Smartphone wieder repariert werden kann.
Viele junge Männer versprechen einer westlichen Frau die grosse Liebe. Sie sind offenherzig, leidenschaftlich, innig und interessiert an unserer Lebensart. Aber sie können keine Beziehung auf Dauer führen, weil sie sonst heiraten und ihre Partnerin womöglich zum Islam bekehren müssten. Die Partnerin muss vor allem von der Familie akzeptiert werden. Auch das ist eine Frage der Ehre. Und das Kopftuch. Ohne Kopftuch besteht der Verdacht, die Frau könnte ehrlos und unrein sein. Aber es gibt natürlich auch trotz aller Reinheit viele temperamentvolle Hausdrachen, so dass die Männer lieber freiwillig draussen herumlungern als zuhause zu verweilen. - hhh.
Ausnahmen bestätigen die Regel. Eine grosse Ausnahme ist es, wenn der Traum im Raum steht, durch die europäische Frau nach Europa auswandern zu können. Also unbedingt heiraten. Dann ist auch die Akzeptanz in der Familie eine andere. Die Frau ist dann Mittel zum Zweck. Und alle drücken ein Auge zu. Dass eine solche Heirat nichts mit der traditionellen zu tun hat, und dass es fast aussichtslos ist, trotz Heirat einfach einmal so z. B. nach Deutschland einzuwandern und Geld zu verdienen, steht auf einem anderen Blatt. Träume sind mächtig in Marokko.
Aber, die Familie steht über allem. Auch deren Versorgung durch den Sohn der Familie. Wie wir uns denken können, ist die Integration einer Europäerin wohl selten bis gar nicht in Marokko umsetzbar. Doch, ich habe einige von ihnen gesehen oder kennengelernt, die diesen Weg gegangen sind und ein Kopftuch tragen. Damit haben sie es geschafft. Sie haben Familie, Nestwärme und wenn sie Glück haben, einen toleranten, fürsorglichen, verantwortungsbewussten Ehemann. Einen richtigen Mann. Einen Patriarchen.
Sie haben es wohlweisslich gegen diese bei uns vorherrschende Kälte, Einsamkeit und die Verweigerung der Männer, Verantwortung für Nachwuchs zu übernehmen, getauscht. Den gesellschaftlichen Preis, den wir emanziperten deutschen Frauen wohl oft zahlen müssen für unseren free choice.